Rede Imaginarium

„Hochverehrtes Publikum,



treten Sie näher, treten Sie näher. Ich, Merkur, der Götterbote, lade Sie ein. Ich lade Sie ein, Sir, heute Abend und zwar nur heute Abend und nur an diesem Ort können Sie eintauchen in die Gedankenwelt, in die großartige Gedankenwelt *grusel* des Dr. Parnassus. Gestatten Sie Dr. Parnassus Ihre Phantasie zu entfesseln.“


So beginnt der Film „Das Kabinett des Dr. Parnassus“. Dieses Kabinett ist ein – Imaginarium. Und schon sind wir mitten drin in der Ausstellung „Imaginarium“ von Anne Rosemann. Dieses Wort und dieser Film inspirierten die Künstlerin zu dem Titel dieser Ausstellung. Wie Dr. Parnassus ermöglicht Anne Rosemann dem Imaginariumsbesucher Zutritt in eine andere Welt. So wie Dr. Parnassus ist sie Schöpfer dieser anderen Welt. Doch wie diese Welt erscheint, hängt ganz davon ab, wie einzelne Personen mit dieser Welt zusammen wirken. Dr. Parnassus bestimmt also nicht allein, was die Personen erleben, die durch seinen Zauberspiegel gehen. Ein pummeliges Kind sieht in dieser Welt lauter Süßigkeiten, eine adrette Frau Schuhe und ein machtsüchtiger Mann klettert an einer Leiter in den Himmel.


Fragt man Anne Rosemann, was ihrer Meinung nach ein Betrachter ihrer Bilder sieht, so würde sie antworten: „Stille, Licht durchflutete Landschaften, verwunschene Wälder, die mit geisterhaften Wesen bevölkert sein können, Mädchen in Hängematten oder schummrige Höhlen.“ Doch was sehen Sie?


Anne Rosemanns Professor Johannes Hüppi, bei dem sie 2007 Meisterschülerin war, hat der Künstlerin und einem erdachten Kunstinteressenten folgenden Dialog in den Mund gelegt: „Beschreiben Sie mir, was sie malen.“ – „Ich male Blumen und Baumhütten, Frauen und Pilze.“ – „Aha“, wird sich der verlegene Frager erstaunt sagen. „So also sieht moderne Malerei aus.“ Mit dem Kommentar: „Er wird sich mit dieser Antwort begnügen und dabei nichts begriffen haben“ endet Hüppis kurze Geschichte. Was Hüppi damit sagen will? Blumen und Pilze kann jedes Kind malen. Ich nehme auch einfach ein paar grelle Farben, die übertünchen, dass die Formen keine Konturen haben. Und wenn es doch einer merkt, bezeichne ich mich notfalls als abstrakten Künstler. Doch Anne Rosemann ist keine abstrakte Künstlerin, auch keine naturalistische und auch keine surrealistische. Da sind geometrische Formen, flächig aufgebaut, die im Zusammenspiel mit anderen Formen einen Sinn ergeben, Formen, die gegenständlich, aber auch mehrdeutig sind und Spielraum für Interpretation geben. Hinter der vordergründig einfachen Bildsprache steckt viel mehr.


Die Bilder sind nicht so realistisch, wie man denkt. Sind es Augen? Oder doch Kreise mit Punkten drin? Für diese fantastische Malerei braucht man einen geschulten Blick und den hat Anne Rosemann. Dasselbe gilt aber auch für ihre gewagte Farbauswahl. Da hat sie ihr Elternhaus sehr geprägt. Ihre Eltern hatten großen Spaß an schönen Dingen und so war das Haus auch sehr bewusst eingerichtet mit Kunsthandwerk, ganz Ton in Ton. Aus den gemeinsamen Urlauben nach Wales brachten die Eltern gewebte Decken, handgezogene Kerzen, Keramik oder handgewebte Teppiche mit, die Kunsthandwerker sehr farbbewusst gestaltet haben. Gezogene Kerzen, mit einem Farbverlauf, die einen so beeindrucken, dass sie sich regelrecht in einem Menschen festsetzen. Zumindest in Anne Rosemann. Sie glaubt, dass das sie sehr beeinflusst und sensibilisiert hat, aber was sie wirklich inspiriert hat zu ihren Bildern, kann sie nicht sagen. Sie nimmt Dinge aus der Welt genauso auf, wie Dinge aus der Kunst, die sie dann ebenfalls beeinflussen. Was sie inspiriert, kann sie erst im Nachhinein sagen. Einige ihrer eigenen Bilder erinnern sie plötzlich an Gauguin. Nicht wegen des Inhalts, sondern wegen der Farben. Dabei mochte sie wegen der leuchtenden Farben vor allem früher van Gogh viel mehr. In der modernen Kunst fühlt sie sich hingezogen zu stark farbigen Bildern und zu verspielter, phantasievoller Kunst, zum Beispiel zu Niki des Saint Phalle oder Jean Tingely, auch zu den Expressionisten, Impressionisten und einigen Symbolisten.


Ihre Einflüsse aus der Kunstgeschichte bezeichnet sie selbst als vielfältig. Aber auch von der Populärkultur fühlt sie sich ungewollt beeinflusst. Sie liebte schon als Kind Fantasyliteratur mit Hexen, Zauberern und Übersinnlichkeit. Schauen Sie doch heute mal, ob sie das in ihren Bildern wieder erkennen.


Anne Rosemann hat Brüder, die gerne Computer spielen. Für Computer interessiert sie sich bis heute nicht. Aber Spiele, in denen virtuelle Abenteurer Räume erkunden müssen und Rätsel lösen, beflügelten die Erfindungsgabe sowohl des einst verträumten Mädchens, das oft in seiner eigenen Phantasiewelt lebte, als auch der heutigen Künstlerin.


Und auch wenn sich ihr Stil an diese Computerwelten anlehnt, so kommt er aber doch aus ihrem Innern. Es kommt ihr ein bisschen so vor, als würde sie beim Malen eine innere Welt ihrer Gefühle und Emotionen durchwandern. „Auf irgendeine Weise“, so beschreibt Anne Rosemann schließlich, wie ihre Bilder entstehen. In der Virtualität dieser Computerspiele fand sie phantastisch stilisierte Pflanzen und Tiere, schräge Landschafen und leuchtende Farben.


Und so ist es ihr auch immer ein Anliegen, die Farben zum Leuchten zu bringen. Farben zu wählen, die sich gegenseitig in ihrer Wirkung unterstützen.


Es fasziniert sie, dass manchmal Nuancen einen Unterschied ausmachen, der sich auf das ganze Bild auswirkt. Die Farben wählt sie bewusst und lässt sich dafür auch viel Zeit, damit die Farben tatsächlich zusammen klingen, wie Töne in einer Melodie, wie es Anne Rosemann selbst ausdrücken würde.


Und noch etwas können Sie heute Nachmittag entdecken: Wie schon die großen Meister stellt sich Anne Rosemann nicht hin, malt ein Bild zu einem Thema und wenn es fertig ist, kommt das nächste Bild zum nächsten Thema. Wie diese großen Künstler arbeitet sie prozesshaft, die Bilder können sich bei ihr entwickeln und weiterentwickeln. An ihrem Bild „Bodennebel“ ändern sich ein paar Details und schon wird daraus das Bild „Bodennebelinsekten“. Anne Rosemann trägt ein Thema sehr lange mit sich mit. Aneinander gereiht wirken diese Bilder wie Serien und diese wiederum wirken wie ein Spaziergang durch Anne Rosemanns Gedankenwelt, durch ihr Imaginarium, durch das sie die Betrachter führt.


Manche ihrer Serien ergeben nebeneinander eine kleine, zarte Geschichte. Ein Mädchen liegt in einer Hängematte. Sie schaut den Betrachter des Bildes an – wer betrachtet hier wen? Ein ruhiger, verträumter und entspannter Blick. Schaut sie überhaupt, oder blickt sie ins Leere?


Und dann ein zweites Bild: Das gleiche Motiv, wieder das Mädchen in der Hängematte. Einige Farben sind anders und auch das Motiv hat sich nur in einer Kleinigkeit geändert: Die Augen des Mädchens sind nun geschlossen. Es ist eingeschlafen – die meditative Ruhe, von der Anne Rosemann selbst spricht, ist bei ihrer eigenen Figur vollkommen.


Auch ihr Professor Hüppi malt gerne Frauen und Landschaften, auch in Serien. Auf zwei seiner Bilder erkennen wir offensichtlich dieselbe Frau in einer bergigen Landschaft. Auf beiden Bildern hat sie den gleichen Gesichtsausdruck und serviert uns etwas auf einem Tablett. Doch während es auf dem einen Bild einfach nur ein kühles Bier ist, bringt sie auf dem anderen Bild einen Kopf.


Und auch nicht alle Werke, die Sie hier und heute zu sehen bekommen, halten ihr Versprechen von Ruhe, Verspieltheit und Träumerei. Sicherlich kennen Sie das Lied „I don’t like Mondays“ von den Boomtown Rats. Ein heiterer Titel, Bob Geldorf singt frisch, fromm, fröhlich, frei, ja fast unschuldig – von einem Amoklauf. „Ich will den ganzen Tag niederschießen“, sagt die Hauptperson. Niemand spielt mehr auf dem Spielplatz, denn sie möchte dort mit ihrem eigenen Spielzeug spielen *Geste*. Die Schule ist früher aus, denn in der nächsten Unterrichtsstunde lernen wir alle, wie man stirbt, heißt es weiter in dem Lied.


Und dieses Mittel der getarnten Grausamkeit wendet Anne Rosemann auch in den Bildern an, die Sie heute sehen: Ihre Malereien sind so bunt wie in einem Bilderbuch: Kräftige Farben, Rosa, Orange, Rot zieren beispielsweise das Bild „Gruselblumen“.


Als ich das Bild das erste Mal gesehen habe, überwältigten mich die Farben. Ich fühlte mich wie Rotkäppchen in ihrem Märchenwald beim Blumenpflücken. Gespannt blickte ich auf den Titel: „Gruselblumen“. Irritiert trat ich zurück, der Titel öffnet eine ganz neue Perspektive. Taumelnd dachte ich über diesen Namen nach: Gruselblumen. Blumen – ja, das passt zu diesem Bild mit den leuchtenden Blüten, aber warum sind es Gruselblumen? Ich warf einen zweiten Blick auf das Bild. Tatsächlich: Da sind Kreise mit Punkten drin und diese wirken wie Augen. Verfolgen sie mich? Dreiecke, die wie Zähne aussehen. Wollen sie mich zerfleischen? Ich dachte wieder an Rotkäppchen. Natürlich: Mitten in diesem Märchenwald lauerte doch der Wolf – auch sehr gruselig. Und in diesem Zusammenhang erscheinen auch die leuchtenden Farben ganz anders. Ihr Professor Johannes Hüppi sagt über Anne Rosemanns Farben: „Die meisten davon würde man isoliert nicht ertragen können.“ Aber auch zwei einzelne Farben wie rosa und rot passen doch eigentlich nicht zusammen – sie „beißen“ sich. Auf den zweiten Blick ist also auch ihre Farbauswahl bedrohlich, fast aggressiv.


Hüppi unterstellt Anne Rosemann also eine Affinität zu „mutigen“ Farben. Das ist auch bei ihrem Werk Geisterwald so. Schon der Titel ist genauso unheimlich, wie das grüne und blaue Bild, das Bäume mit einem Auge auf fast jedem Blatt zeigt. Mutige Farben. Mut ist wichtig, wenn man durch einen Geisterwald gehen will. In Hessen beispielsweise soll es einen Wald geben, der Geisterwald genannt wird, weil angeblich nur wenige Personen, die den Wald betraten, ihn auch wieder verlassen haben. Hätten Sie den Mut, diesen Geisterwald zu betreten?


Geisterwald. Kein sehr geläufiges Wort, wenn man sich nicht häufig mit Übersinnlichkeit oder Fantasy-Geschichten beschäftigt. Das Wort Gruselblumen hatte ich zuvor noch nie gehört. Würde man Anne Rosemann fragen, was zuerst war: Der Titel oder das Bild, würde sie antworten, dass es definitiv das Bild war. Früher hatten ihre Bilder überhaupt gar keine Titel oder sie benannten lediglich, was auf dem Bild zu sehen ist. Es war ihre Kollegin Renate Dembowski, die anfing den Bildern Titel zu geben, die Anne Rosemann so gut fand, dass sie sie einfach übernommen hat. Anne Rosemann freut sich über diese Ideen und ihrer Meinung nach, geben ihre Titel die märchenhafte Stimmung gut wieder und beschreiben gleichzeitig, was zu sehen ist. Davon sind dann auch ihre Titel wie Insektenfresser oder Gruselblumen beeinflusst.


Meiner Meinung nach, sind Titel ein wichtiger Bestandteil eines jeden Bildes. Sind Titel gut, rufen sie einen Effekt hervor, wie beispielsweise bei dem Bild „Gruselblumen“.


Um die volle Wirkung der Bilder genießen zu können, sollten Sie also nicht einfach an den Bildern vorbeigehen und sich von ihrer Farbigkeit blenden lassen. Sonst ist die Arbeit als solche verfehlt. Tauchen Sie lieber ein in Anne Rosemanns Imaginarium und fragen sich: Was bedeutet diese Bedrohung für mich? Ist sie persönlich, politisch oder gesellschaftlich? Oder ist gar keine Bedrohung vorhanden?


Anne Rosemann hat hier im Kloster drei Räume mit ihren Bildern verziert. In jedem Raum finden Sie Bilder eines bestimmten Themas, dem sich Anne Rosemann gewidmet hat. Es gibt einen Höhlenraum, einen Waldraum und einen Raum mit hellen Landschaftsbildern. Doch die Übergänge von Raum zu Raum sind fließend. So finden Sie also vielleicht auch mal ein Waldbild im Höhlenraum. Doch davon ab achtet Anne Rosemann auf thematische und farbliche Einheitlichkeit.


Auf die Höhlenbilder bin ich noch gar nicht eingegangen. Was sind das für Höhlen? Ist es eine bedrohliche Höhle, in der ein gefährlicher Bär wohnt? Wir befinden uns hier in einem Kloster, da liegt die Assoziation Mariengrotte nahe.


Für einen gläubigen Menschen ist eine Mariengrotte nichts Gefährliches – im Gegenteil. Aber wie sieht das ein Nicht-Katholik? Das Heilige ist für ihn nicht gefährlich, aber vielleicht nicht vertraut. Man muss sich respektvoll verhalten. Darf ich mit meiner sommerlichen Bekleidung die Grotte betreten oder ist zu viel nackte Haut anstößig, auch wenn ich mich nur wegen des Wetters so luftig gekleidet habe? Unsicherheit darüber kann auch beängstigend sein.


In diesem Sinne: Lassen Sie sich gruseln, aber auch entführen in eine wundersame Welt, in Anne Rosemanns Imaginarium und vor allem: Lassen Sie Ihre Phantasie entfesseln!



Alexandra Wolff